Erinnerung an die Natur

Erinnerung an die Natur

Einband:
Paperback
EAN:
9783593373553
Untertitel:
Die Geschichte des Naturschutzes im deutschen Kaiserreich
Genre:
Neuzeit bis 1918
Autor:
Friedemann Schmoll
Herausgeber:
Campus Verlag GmbH
Auflage:
1. Aufl. 05.2004
Anzahl Seiten:
508
Erscheinungsdatum:
31.05.2004
ISBN:
978-3-593-37355-3

Mit der Industrialisierung wurde Natur von der bedrohenden zur bedrohten Größe. Die Gründungswelle von Naturschutzorganisationen im Kaiserreich zeigt, dass die Naturfrage für immer mehr Menschen zu einer Frage des Gemeinwohls wurde. Der Autor schildert die Geschichte des frühen Naturschutzes und dessen Widersprüchlichkeit: Während Natur in Schutzgebieten als unantastbar ausgewiesen wurde, entfalteten sich außerhalb industrielle Systeme als Verursacher der Natur- und Umweltschädigungen.

Autorentext
Friedemann Schmoll, Dr. phil., ist Priv.-Doz. am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Uni Tübingen.

Leseprobe
Anfang der 1930er Jahre brachte der Wiener Wissenschaftstheoretiker Otto Neurath (1882-1945) die Verschiebung der Kräfteverhältnisse zwischen Natur und Mensch auf eine griffige Formel: "Der Mensch wird immer unabhängiger vom Boden, auf dem er lebt. () Wenn früher ein Mensch und ein Sumpf zusammenkamen, verschwand der Mensch, jetzt der Sumpf."1 Mit den modernen Möglichkeiten, Natur zu unterwerfen, schien menschliche Zivilisation sich endgültig aus bislang gültigen Abhängikeiten befreit zu haben. Damit einher ging jene Umkehrung in der Beziehung zwischen Mensch und Natur, die Friedrich Schiller in seinen Briefen zur ästhetischen Erziehung Ende des 18. Jahrhunderts dem Zeitalter der Vernunft zur Aufgabe gestellt hatte: "Aus einem Sklaven der Natur, solange er sie bloß empfindet, wird der Mensch ihr Gesetzgeber, sobald er sie denkt."2 Als sich allerdings um 1900 Entwicklungsprozesse in Wirtschaft, Technik, Industrie, Verkehr und Wissenschaft schneller und immer schneller vollzogen, schien die Bemächtigung der Natur durch den Menschen einen Grad erreicht zu haben, der auch Fragen nach den kulturellen und ökologischen Folgen dieser Umkehrung aufwarf. Mehr und mehr Skeptiker stellten den Errungenschaften ihrer Gegenwart die Verluste in ihren Beziehungen zur Natur und die Risiken modernen Naturumgangs gegenüber. Keinesfalls einstimmig begleiteten um 1900 zeitgenössische Chronisten die Entfaltung von wissenschaftlichem und technischem Fortschritt mit Euphorie. In diesem Zeitraum mehrten sich die Stimmen, die Natur nicht mehr primär als feindliches Gegenüber, sondern als Objekt bewahrender Zuwendung bestimmten: "Mit den gewaltigen Mächten der Natur mußte diese Menschheit durch ungezählte Reihen von Generationen zähe und gefahrvolle Kämpfe auskämpfen, ehe ihr Dasein gegen die Naturmächte gesichert erschien. Und nun, seit dem Ausgange des neunzehnten Jahrhunderts erst, wird den Kulturvölkern voll bewußt, daß nicht nur der Mensch gegen die Naturmächte, sondern umgekehrt auch die Natur gegenüber menschlichem Tun eines Schutzes bedarf."3 Natur präsentierte sich jetzt nicht mehr als bedrohende Größe und als Quell unkalkulierbarer Gefährdungen. Natur selbst schien in dieser historischen Phase eines scheinbar entfesselten Kapitalismus und zügelloser Industrialisierung zur bedrohten Größe geworden, die der bewahrenden Inobhutnahme bedurfte, um die zerstörerischen Potentiale der Zivilisation zu kontrollieren. In dieser Studie geht es um Naturschutz in Deutschland, also um Bewegungen, die spätestens seit den Industrialisierungsschüben der 1890er Jahre gegenüber der Dominanz instrumenteller Naturaneignung alternative Naturbeziehungen einklagten. Naturschutz kontrastierte das in modernen Gesellschaften dominante Bild der Natur als Objekt instrumenteller Vernunft mit einem Verständnis, das über deren zweckgerichtete Nutzung hinauswies. Sie wurde innerhalb jener Veränderungsprozesse der Industrialisierung, Urbanisierung, Rationalisierung, Demokratisierung und Individualisierung, die im Gesamt als Modernisierung verstanden werden, auch zu einem Objekt des Bewahrens. Thema dieser Arbeit sind also die sich im Rahmen dieser Modernisierungsprozesse formierenden Ambivalenzen von Verlust und Rettung, Bewahrung und Vernichtung, die für den Umgang der Moderne mit Natur signifikant erscheinen.

Inhalt
Inhalt Geleitwort 9 Einführung 11 1. "Die Kultur als Hauptfeind der Natur": Zeitdiagnosen und Wirklichkeitsbeschreibungen 14 2. Selbstfindungsliteratur, Modernisierungstheorie, Umweltgeschichte: Zum Stand der Forschung 26 3. Zur kulturellen Logik der Naturbewahrung 51 ERSTER TEIL: DIE NEUERSCHAFFUNG DER WELTNATUR UND LANDSCHAFT IM ZEITALTER DER INDUSTRIALISIERUNG 1. Der Weg aus der Natur 61 2. Bevölkerung 63 3. Landwirtschaft 65 4. Wald- und Forstwirtschaft 69 5. Die großen Städte 71 6. Energie/Luftverschmutzung 75 7. Verkehr 78 8. Wasser 81 9. Abfall 87 10. Zusammenfassung 89 ZWEITER TEIL: NATURBEWAHRUNG UND KULTURELLES GEDÄCHTNIS 1. Heilige Bäume 93 2. Merkwürdigkeiten: Baumgeschichten zwischen Ressourcennutzung und Naturbewahrung 100 2.1 Gottfried Kellers "Die Leute von Seldwyla": Die Zerstörung der Natur und der Verlust von Heimat 100 2.2 Forstwirtschaft und Waldromantik: Zur Entzauberung und Wiederverzauberung des Waldes 104 2.3 Sichten, Inventarisieren, Schützen: Die systematische Erfassung der forstbotanischen Merkwürdigkeiten 107 2.4 Träume des Ursprungs: Wildnis als Leitbild bei Wilhelm Heinrich Riehl 111 3. Ursprung und "Eigenart": Staat und Naturschutz in Preußen und im Deutschen Reich 113 3.1 "Gefährdung der ursprünglichen Natur durch die fortschreitende Kultur": Hugo Conwentz, Wilhelm Wetekamp und die Gründung der "Staatlichen Stelle für Naturdenkmalpflege" in Preußen 113 3.2 Natur und Zeit: Zur Allianz von Naturbewahrung und Geschichtsbewußtsein 121 3.3 Relikte, Lebensräume, Landschaften: Zur Differenzierung des Krisenbewußtseins in der Naturdenkmalpflege 138 3.4 Ästhetik als Versöhnung: Naturdenkmalpflege und Industriegesellschaft 144 3.5 Netzwerke des Naturschutzes: Aus der Arbeit der "Staatlichen Stelle für Naturdenkmalpflege" 1906-1918 148 3.6 "Konwentzioneller" Naturschutz und "Naturdenkmälerchensarbeit": Zeitgenössische Kritik am staatlichen Naturschutz 150 3.7 Das Tabu des Eigentums: Zum Scheitern der Initiative für ein preußisches Gesetz der Naturdenkmalpflege 155 3.8 Erhalten und Gestalten: Die staatliche Organisation des Naturschutzes außerhalb Preußens 161 3.9 Der Schutz natürlicher "Eigenart": Nationale und internationale Natur 171 4. Vereine und Verbände - Facetten der privaten Naturschutzarbeit im Kaiserreich 179 4.1 Staatliche Verpflichtung und gesellschaftliche Selbstorganisation 179 4.2 Selbstbildung und politische Partizipation: Zur Soziologie des Vereinswesens 181 4.3 Wissenschaft, Kulturkritik, soziales Engagement: Programmatische Akzente und historische Traditionen bürgerlicher Vereinskultur 182 4.4 Jenseits von Klasse und Geschlecht? Natur und Gesellschaft 184 4.5 Zur gesellschaftlichen Bedeutung der Naturschutzverbände im Kaiserreich 190 4.6 Heimat, Region, Vaterland: Natur und Nationsbildung 193 5. Profile und Portraits 196 5.1 Landschaft als sozialer und ästhetischer Raum: Der "Verschönerungsverein für das Siebengebirge" und der "Verein zur Rettung des Siebengebirges" 1869-1922 197 5.2 Die Natur in der Stadt im Schnittfeld ökonomischer und öffentlicher Interessen: Der Münchner "Isartalverein" von 1902 203 5.3 Kultivierung und Erhaltung der alpinen Natur: Der "Verein zum Schutze und Pflege der Alpenpflanzen" von 1900 208 5.4 Die Reservation unantastbarer Natur: Der "Verein Naturschutzpark" von 1909 212 5.5 Das Scheitern einer Sammlungsbewegung: Der "Bund zur Erhaltung der Naturdenkmäler" von 1909 224 6. Zusammenfassung 230 DRITTER TEIL: MENSCH UND TIER 1. Zwischen Ausbeutung und Anbetung - Beziehungsgeschichten zwischen Mensch und Tier 237 2. Bedroht, verfolgt, ausgestorben - die Tierwelt und der Naturschutz 243 3. Identifikation und Indikation: Die Vögel und die Vogelschutzbewegung 249 3.1 Traditionen und Legitimationen: Gefiederte Freunde und nützliche Helfer 253 3.2 Der bürgerliche Vere…


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