"Selbstkritik" und Schuldbekenntnis

"Selbstkritik" und Schuldbekenntnis

Einband:
Fester Einband
EAN:
9783486579710
Untertitel:
Kommunikation und Herrschaft unter Stalin (1917-1953)
Genre:
Zeitgeschichte (1946 bis 1989)
Autor:
Lorenz Erren
Herausgeber:
De Gruyter Oldenbourg
Anzahl Seiten:
405
Erscheinungsdatum:
28.07.2008
ISBN:
978-3-486-57971-0

Unter Stalin wurden Menschen genötigt, sich selbst zu beschuldigen. Diese Praxis ging nicht auf vorrevolutionäre Traditionen zurück, sondern entstand erst während der innerparteilichen Machtkämpfe der zwanziger Jahre. Sie hatte den Zweck, politischen Streit beizulegen, Sündenböcke zu demütigen oder auch die "pädagogische Besserung" fehlgegangener Amtsträger zu inszenieren.

Auch dort, wo vorgeblich die moralische Läuterung einzelner Menschen angestrebt wurde, ging es den Vertretern des Regimes tatsächlich eher darum, Stimmung und Situation im jeweiligen sozialen Umfeld zu beherrschen.


Autorentext
Lorenz Erren, geboren 1972, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut in Moskau.

Klappentext
Unter Stalin wurden Menschen genötigt, sich selbst zu beschuldigen. Diese Praxis ging nicht auf vorrevolutionäre Traditionen zurück, sondern entstand erst während der innerparteilichen Machtkämpfe der zwanziger Jahre. Sie hatte den Zweck, politischen Streit beizulegen, Sündenböcke zu demütigen oder auch die "pädagogische Besserung" fehlgegangener Amtsträger zu inszenieren. Auch wo vorgeblich die moralische Läuterung einzelner Menschen angestrebt wurde, ging es den Vertretern des Regimes tatsächlich eher darum, Stimmung und Situation im jeweiligen sozialen Umfeld zu beherrschen.

Zusammenfassung
"Die Arbeit zeichnet sich durch eine Einstellung aus, Neues herauszufinden und keine scheinbar noch so selbstverständlichen Aussagen der vorliegenden Literatur unbesehen zu übernehmen. Sie gehört zu jenen Arbeiten, die nicht nacherzählen, sondern genuine Forschung betreiben und damit Diskussionen eröffnen." Berthold Unfried, H-Soz-u-Kult "Bereichert die Forschung um wichtige, höchst anregende und beachtenswerte Einsichten und Überlegungen." Hans Hecker, Osteuropa, 59. Jg., 7-8 2009 "... "Selbstkritik" und Schuldbekenntnis (gehört) vielleicht zu den originellsten und wichtigsten Analysen des Stalinismus der letzten Jahre. Erren zeigt eine Welt, die mit ihrer theatralischen Inszenierung, ihrer Selbstverleugnung, der usurpierten Entscheidungsgewalt über 'richtig' und 'falsch' fremd und monströs anmutet. Zwar weist der Autor zu Recht immer wieder auf parallele Diskursmechanismen in anderen Gesellschaftsformen hin, arbeitet dann aber das Thema der Schuldbekenntnisse im Zusammenhang mit Machtakkumulation und physischer Gewalt als Signum der stalinistischen Epoche heraus." Neue Politische Literatur, Nr. 3/2009

Leseprobe
I. Der bolschewistische Abstimmungskörper als kollektive Geisel (S. 33)

Einleitung

Die Herkunft der sozialen Praktiken der Bolschewiki, die man heute als "stalinistische Schuldbekenntnisse" oder als "Konfessionsrituale" bezeichnen könnte, lag niemals tief im Verborgenen. Die Ausführungen des folgenden Kapitels erheben auch nicht den Anspruch, neue Tatsachen aufzudecken, sondern wollen nur erklären, wo innerhalb einer altbekannten Ereigniskette die Kontinuitätslinie des Diskurses verläuft.

Aus Gewaltexzessen von Revolution und Bürgerkrieg hervorgegangen, litt die junge Sowjetherrschaft unter einem Legitimationsdefizit, weshalb sie auf akklamierende Bekenntnisakte der Beherrschten besonderen Wert legte. Nicht von den Angehörigen der eigenen Partei, sondern vom besiegten politischen Gegner forderten die Bolschewiki nach der Revolution die ersten Loyalitätsbekenntnisse:

So verlangte etwa der neue Rat der Volkskommissare 1917 von den Petrograder Ministerialbeamten die schriftliche Erklärung ihrer "völligen Unterordnung" unter die neue Herrschaft.1 Die Unterwerfung der Besiegten ist eine kommunikative Handlung, die die Wiederaufnahme der gegenseitigen Verständigung ermöglichen soll. Zukunftsweisender im Sinne der Diskursentwicklung war allerdings die Kapitulation der konkurrierenden revolutionären Parteien, die ihr Projekt für gescheitert erklärten, sich auflösten und den Mitgliedern rieten, sich den Bolschewiki anzuschließen.

Innerhalb der bolschewistischen Partei entstanden die Praktiken von Loyalitäts- und Schuldbekenntnissen nicht unmittelbar aus dem Kapitulationsverhalten von Bürgerkriegsverlierern, sondern infolge des Funktionswandels der Entscheidungsmechanismen in den zentralen Abstimmungskörpern. Obwohl russische Kommunisten demokratischen Prinzipien niemals besonderen Respekt entgegenbrachten, blieben sie – in Ermangelung anderer Legitimierungsprozeduren – in der Praxis auf das Verfahren der Mehrheitsabstimmung angewiesen.

In der Sozialdemokratischen Partei, auch bei den Bolschewiki, blieben Fraktionsbildungen und Kampfabstimmungen bis zum zehnten Parteitag 1921 eine normale Erscheinung des politischen Alltags. Die Entscheidungen für den Oktoberumsturz, für die Unterzeichnung des Brester Friedens und zur Lösung der Gewerkschaftsfrage konnten auch innerhalb der herrschenden Partei nur gegen größte Widerstände durchgesetzt werden.

Die Zugehörigkeit des einzelnen Bolschewisten zu einer bestimmten Fraktion bzw. einer "Plattform" setzte das ursprüngliche Funktionieren demokratischer Mechanismen voraus, in welchen die jeweilige Gruppe die Mehrheit zu erhalten hoffte. Es verstand sich von selbst, daß die Parteiführung sich auf eine Stimmenmehrheit in den wichtigsten Parteigremien stützen mußte. Dieses Prinzip wurde niemals außer Kraft gesetzt und sorgte in der Chrušèev-Ära plötzlich wieder für spannende Momente.

Bis zur Auflösung der Sowjetunion blieb der zentrale Abstimmungskörper der politische Ort, an welchem die jeweiligen Stimmführer der Partei ihre Machtansprüche gegen etwaige Konkurrenten öffentlich behaupten und ihre Fähigkeit beweisen mußten, den reibungslosen Ablauf der Akklamationsprozedur zu garantieren. In der Frühzeit der bolschewistischen Diktatur galt in den zentralen Parteigremien neben dem einfachen Mehrheitsprinzip auch die ungeschriebene Regel, daß die persönliche Autorität der prominentesten Revolutionsführer im Konfliktfall respektiert werden mußte.

Das Verhalten der Mitglieder des Zentralkomitees (und später des

Inhalt
1;Inhalt;6
2;Vorwort;10
3;Einführung;12
3.1;1. Das stalinistische Schuldbekenntnis als Rätsel;12
3.2;2. Zum Forschungsstand: Eine Literaturübersicht;14
3.3;3. Zur Fragestellung und Vorgehensweise;24
4;I. Der bolschewistische Abstimmungskörper als kollektive Geisel;34
4.1;Einleitung;34
4.2;1. Von der Revolution bis zum vierzehnten Parteitag: Konfliktlösung durch Kampfabstimmung;36
4.3;2. Vom vierzehnten zum fünfzehnten Parteitag: Auf dem Weg in die Kapitulation;48
4.4;3. "Vollständige Entwaffnung": Der fünfzehnte Parteitag (Dezember 1927);60
4.5;4. Die neue Kultur der Fehlereingeständnisse und die Kapitulation der "Rechtsabweichler";74
4.6;Schlußfolgerung;91
5;II. "Kritik und Selbstkritik": Ursprung und Wirkung eines neuen Schlagworts;94
5.1;Einleitung;94
5.2;1. "Selbstkritik" als soziale Norm;95
5.3;2. Die Geburt der "Selbstkritik" aus dem Geist der Wandzeitung;101
5.4;3. Praktiken und Funktionen der Selbstkritik;115
5.5;Schlußfolgerung: Die Öffentlichkeit als Falle;131
6;III. Die Gleichschaltung des Geisteslebens: "Selbstkritik" als Fehlereingeständnis;136
6.1;Einleitung;136
6.2;1. Die Loyalitätsforderung der politischen Diktatur als Rahmenbedingung;137
6.3;2. Die Intellektuellen: Ein eigener Weg zur ritualisierten, bereuenden "Selbstkritik"?;142
6.4;3. Stalin mischt sich ein;160
6.5;Schlußfolgerung;176
7;IV. Reue und Selbstkritik in der sowjetischen Öffentlichkeit 1931-1953;180
7.1;Einleitung;180


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