Imperiale Herrschaft in der Provinz

Imperiale Herrschaft in der Provinz

Einband:
Paperback
EAN:
9783593387215
Untertitel:
Repräsentationen politischer Macht im späten Zarenreich
Genre:
Regional- und Ländergeschichte
Herausgeber:
Campus Verlag GmbH
Auflage:
1. Auflage
Anzahl Seiten:
408
Erscheinungsdatum:
30.11.2008
ISBN:
978-3-593-38721-5

Eigene und fremde Welten

Am Beispiel des zaristischen Russlands untersuchen die Autoren die Möglichkeiten und Grenzen von Herrschaft. Im Vielvölkerreich begegneten sich Bauern und Adlige, Zentrum und Peripherie, Russen und Nichtrussen unter verschiedenen Umständen auf verschiedene Weise. Die Ordnungen waren fragil, wurden in Frage gestellt und mussten gegen konkurrierende Ansprüche verteidigt werden. Der Band beleuchtet, wie unter diesen Umständen politische Herrschaft dargestellt, ausgeübt und vermittelt wurde.

Vorwort
Eigene und fremde Welten

Autorentext
Jörg Baberowski ist Professor für Geschichte Osteuropas an der Humboldt Universität zu Berlin. David Feest und Christoph Gumb sind wissenschaftliche Mitarbeiter am SFB 640.

Klappentext
Am Beispiel des zaristischen Russlands untersuchen die Autoren die Möglichkeiten und Grenzen von Herrschaft. Im Vielvölkerreich begegneten sich Bauern und Adlige, Zentrum und Peripherie, Russen und Nichtrussen unter verschiedenen Umständen auf verschiedene Weise. Die Ordnungen waren fragil, wurden in Frage gestellt und mussten gegen konkurrierende Ansprüche verteidigt werden. Der Band beleuchtet, wie unter diesen Umständen politische Herrschaft dargestellt, ausgeübt und vermittelt wurde.

Leseprobe
Wir vertrauen einander. Täglich üben wir uns im Vertrauen. Wir könnten in der modernen Welt überhaupt nicht überleben, wenn wir einander nicht Vertrauen schenkten. Wenn wir ins Krankenhaus kommen, haben wir die Gewissheit, dass wir dort nicht von Ärzten um unser Leben gebracht werden. Vor Gericht, als Kläger, als Beklagte oder Angeklagte, vertrauen wir darauf, dass die Juristen, deren Rede wir nicht verstehen, Recht und Gesetz dienen. Denn kaum einer versteht, wie das Recht interpretiert und angewandt werden muss, aber jeder weiß, dass es unser Leben regelt und dass wir deshalb vor Überraschungen sicher sein können. Professoren bekommen Gehälter und Pensionen, und sie bekommen sie auch dann weiter ausgezahlt, wenn Universitätsleitungen oder Landesregierungen ausgewechselt werden. Wenn Politiker abgewählt werden oder zurücktreten, empfinden wir das nur selten als Schicksalsschlag oder Unterbrechung der täglichen Routine; alles bleibt, wie es ist, weil nur das Amt zählt, nicht die Person, die es bekleidet. Das erhoffen wir nicht nur, das wissen wir auch. Und darin besteht unser Vertrauen, - nicht zu den Personen, sondern zu den Professionen und Institutionen, in deren Namen diese Personen auftreten. Wir bewegen uns dabei so sehr im Selbstverständlichen, dass wir uns allem Unverstandenen bedenkenlos ausliefern. "Ohne jegliches Vertrauen", sagt Niklas Luhmann, könnten Menschen nicht einmal ohne Angst ihr Bett verlassen. Eine "unvermittelte Konfrontation mit der äußersten Komplexität der Welt hält kein Mensch aus." Nur die Gewalt und die Ankündigung des eigenen Todes sind in der modernen, komplexen Gesellschaft noch eine lebensbedrohliche Überraschung. Deshalb ist es unter allen Umständen sinnvoll, Vertrauen zu haben. Es stabilisiert die sozialen Beziehungen in einer unübersichtlichen Welt. Was aber geschieht, wenn das staatliche Gewaltmonopol zerfällt, wenn Armut und Hunger in das Leben zurückkehren? Wenn die Verschiedenen, die in einer Gesellschaft leben, miteinander um knappe Ressourcen konkurrieren und sie niemanden anrufen können, der ihre Konflikte schlichtet oder beendet? Dann werden die Menschen einander misstrauen, sie werden Schutz suchen bei jenen, die im Ruf stehen, stark zu sein und sie werden sich Verwandten, Freunden und Bekannten zuwenden. Niemand wird unter solchen Umständen abstrakten Rechtsvorschriften und Institutionen vertrauen, nicht einmal jene Menschen, die in diesen Institutionen arbeiten. Denn wenn es keine Macht gibt, die das Recht unter allen Umständen durchsetzen und seine Beachtung erzwingen kann, wird es auch niemand beachten. Stattdessen werden wir unser Vertrauen nur noch Personen schenken, die wir kennen, und von denen wir wissen, dass sie auch uns vertrauen. Aber die Vertrautheit, die in der Risiko-Gesellschaft die Voraussetzung für das Vertrauen ist, stellt sich nur ein, wenn Freunde und Bekannte einander begegnen, wenn sie sich vergewissern können, ob sie einander noch trauen dürfen. Sozialität, sagt Hobbes, heißt, mit dem Schlimmsten rechnen zu müssen. Das ist der Grund, warum Despoten in vormodernen Herrschaftssystemen Gefolgsleute in ihrer Nähe haben, ihnen in die Augen schauen und ihre Gesichter und Gesten kontrollieren wollen, um Unvorhergesehenes abzuwenden. So gesehen legt sich das künstliche Netz des Vertrauens über die Lücke, die die Gewalt und die Vernunft nicht schließen kann. Man könnte auch sagen, dass die Stabilität einer Anwesenheitsgesellschaft darin besteht, dass ihre Mitglieder misstrauisch sind, dass sie einander kontrollieren und beobachten und Fremden den Zutritt zu ihr verwehren. Jeder weiß, dass der Vertrauende sich durch eine Vertrauenshandlung verletzlich macht. Denn der Tod oder der Sturz eines Patrons, der Verrat eines Klienten oder die Bedrohung durch Fremde können das kunstvoll geknüpfte Netz persönlicher Beziehungen wieder zerstören. Aus diesen Gründen unterwerfen sich Menschen in Anwesenheitsgesellschaften gewöhnlich einer strengen Sozialdisziplin, um dem Unvorhergesehenen rechtzeitig zu begegnen. Sie arbeiten an der Überwindung des tiefen Misstrauens, indem sie einander daran hindern, von den Normen abzuweichen. Man könnte auch sagen, dass der Anpassungsdruck mit der Primitivität der sozialen Institutionen wächst und nicht, wie Foucault behauptet hat, ein Resultat moderner Disziplinierungstechniken ist. Und weil es in einer unsicheren Welt vernünftig ist, von fremden Menschen nichts Gutes zu erwarten, haben die Tugendlehren in ihr auch keine universale Geltung. Was die eigene Gruppe integriert, hat im Verkehr mit Fremden keine Bedeutung. So haben Historiker das Leben in den Gesellschaften des europäischen Mittelalters und der Frühen Neuzeit beschrieben. Burgen, Türme, Mauern und Waffen waren der sichtbare, Patronage und Verwandtschaftssysteme der unsichtbare Ausdruck einer unsicheren Welt, in der die lokalen Gesellschaften stark, Staaten aber schwach waren. Aber was hat diese Erkenntnis mit der Geschichte des späten Zarenreiches zu tun? "Institutionen haben keine Bedeutung. Alles hängt von Personen ab." So hatte Konstantin Pobedonoscev, Religionsminister und Erzieher Alexanders III. in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts über die Essenz der russischen Staatlichkeit geurteilt. Er sprach aus, was wenigstens die bürokratischen Eliten im 19. Jahrhundert als auswegloses Dilemma empfanden: dass die institutionalisierte und gesetzliche Herrschaft des Zentralstaats an der Kultur personalisierter Herrschaft zerbrach. Die Bürokratie war ein Fremdkörper in den Wirklichkeiten vormoderner Anwesenheitsgesellschaften, weil ihr Regelwerk und ihre Komplexität mit der Unmittelbarkeit der sozialen Beziehungen nicht übereinstimmten. Man könnte mit den Worten des russischen Semiotikers Jurij Lotman auch sagen, dass sie "fast keine Spur im geistigen Leben Russlands" hinterließ, weder im 19. noch im 20. Jahrhundert. Gleichwohl haben Historiker, vor allem in den USA, die Geschichte des späten Zarenreiches und der frühen Sowjetunion in den Kontext einer europäischamerikanischen Moderne eingeordnet. Ihre Geschichten berufen sich auf die Macht der Ideen und ihrer öffentlichen Repräsentationen. Es besteht kein Zweifel, dass die Eliten im Zarenreich und in der Sowjetunion den modernen Traum einer rational geplanten und geordneten Welt träumten. Auch sie glaubten an die Möglichkeit, Gesellschaften, Nationen und Ökonomien durch Institutionen beliebig verändern und kontrollieren zu können. Dieser Glaube an die Grenzenlosigkeit des Möglichen war zugleich die Legitimation und der Daseinsgrund kommunistischer Herrschaft in der …


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