Mütterchen Wolga

Mütterchen Wolga

Einband:
Paperback
EAN:
9783593388762
Untertitel:
Ein Fluss als Erinnerungsort vom 16. bis ins frühe 20. Jahrhundert
Genre:
Regional- und Ländergeschichte
Autor:
Guido Hausmann
Herausgeber:
Campus Verlag GmbH
Auflage:
1. Aufl. 09.2009
Anzahl Seiten:
494
Erscheinungsdatum:
30.09.2009
ISBN:
978-3-593-38876-2

Die Wolga ist in Russland seit langem ein nationales Symbol. Guido Hausmann schildert, wie sich die Bedeutung des Flusses als kollektiver Erinnerungsort seit dem 17. Jahrhundert entfaltete und wandelte. Geistliche sprachen von der Wolga als Jordan und verbreiteten damit die christliche Botschaft, Aufklärer bezeichneten sie als Arterie Russlands und symbolisierten so dessen imperiale Machtentfaltung, und nationalrussische Autoren betonten die landschaftlichen Vorzüge der Wolga gegenüber dem Rhein. Seit dem 18. Jahrhundert ist in Treidlerliedern die Bezeichnung »Mütterchen « Wolga überliefert, eine Vorstellung, die bis heute lebendig ist.

Autorentext
Guido Hausmann vertritt zurzeit den Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte an der Universität Freiburg.

Leseprobe
7. Im Zeitalter der Dampfschifffahrt: Wolgafahrten als Fahrten in die eigene Kultur und Geschichte 7.1. Vorbemerkung Die Bevölkerungsmehrheit Russlands kannte in der Mitte des 19. Jahrhunderts ihr eigenes Land weder aus eigener Anschauung noch durch Lektüre. Dabei war sie trotz der erst 1861 aufgehobenen Leibeigenschaftsordnung in den Jahrhunderten zuvor sehr mobil gewesen. Aber der lebensweltliche Hintergrund geographischer Mobilität war durch sehr spezifische Zwecke und Ziele geformt: die Flucht aus der Leibeigenschaft ("Läuflingswesen") in die weniger vom Staat durchdrungenen peripheren Regionen, ein im nördlichen Teil Russlands durch den geringen Bodenertrag erforderlicher jahreszeitlicher Wechsel zwischen der Arbeit auf dem Feld und gewerblicher Tätigkeit im Dorf oder in der Stadt, auch die Arbeitsmigration von bäuerlichen Sondergruppen wie der Treidler und von handeltreibenden Bauern, die gewaltsame Umsiedlung von Bauern auf gutsbesitzerlich-adligen Willen, der Militärdienst, die Verschickung nach Sibirien oder das Wallfahrtswesen, um nur einige Gründe zu nennen. Die geographische Mobilität wurde auch durch den schlechten Zustand der Verkehrswege, Land- wie Wasserwege, behindert. Kaufleute hatten seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts immer wieder ihre Verbesserung gefordert. Trotzdem waren sie in der Mitte des 19. Jahrhunderts noch in einem kümmerlichen Zustand und nur im Sommer und Winter zu gebrauchen. Aber ohne Zweifel setzte im 19. Jahrhundert ein beschleunigter Wandel ein. Neue Technologien wie das Dampfschiff begannen in der Mitte des Jahrhunderts die alten Segel- und Ruderschiffe abzulösen, erste Eisenbahnen begannen durchs Land zu fahren. Die wirtschaftlichen Beziehungen dynamisierten sich mit dem Wegfall der Leibeigenschaftsordnung, die Migration in die Städte beschleunigte sich, und es entstanden neue Möglichkeiten der Beschäftigung in Gewerbe und Industrie. Aus den russischen Kaufleuten waren noch keine Bürger geworden, aber ältere kirchlich-patriarchalische Bindungen brachen auf und Unternehmergeist wurde erkennbar. Die bäuerliche Bevölkerungsmehrheit war aber weder lese- noch schreibkundig. Sie hatte auch keine Verwendung für ein abstraktes geographisches Wissen und sah deshalb auch keine Notwendigkeit, es sich anzueignen. "Volksaufklärung" war ein Schlagwort, das in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts innerhalb der sich als Intelligencija verstehenden intellektuellen oder akademischen Sozialgruppen Verbreitung gefunden und in der Mitte des 19. Jahrhunderts in die Gründung von einigen "Volksaufklärungsvereinigungen" gemündet hatte. Die Dorfgeistlichkeit fiel aufgrund ihres geringen kulturellen Interesses für solch ein Projekt und eine aktive Rolle in solchen Vereinigungen weitgehend aus. Die Vereinigungen entfalteten in der ländlichen Bevölkerung erst seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts eine intensivere Tätigkeit, häufig in Verbindung mit den Landschaftsorganen (zemstva). Patriarchalisches Verhalten und ein normatives Verständnis dessen, was die bäuerliche Bevölkerungsmehrheit wissen sollte, führten häufig zu Konflikten mit den Lesewünschen einer sich alphabetisierenden Bevölkerung, vor allem der in die Städte abwandernden bäuerlichen Bevölkerung, die Helden-, Räuber- und patriotische Kriegsgeschichten in Wort und Bild, in Zeitungen wie Volksbilderbögen, bevorzugte. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts hatten Adlige das intellektuelle Leben bestimmt, und manche Gutshäuser waren zu kulturellen Zentren auf dem Lande geworden. Die Zahl der Gelehrten oder Wissenschaftler in den großen Städten Russlands war noch gering, aber sie hatten Verständnis für abstraktes geographisches und kulturhistorisches Wissen, das sie in Enzyklopädien und anderen Formen veröffentlichten. Über die Herkunft des Namens Wolga und die frühe Geschichte ihrer Erforschung konnte man sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts in einigen Nachschlagewerken gut informieren. Im Enzyklopädischen Lexikon erschien in den 1830er Jahren ein Artikel, der darauf hinwies, dass Herodot und Ptolemäus die Wolga zwar bereits (als Ra oder Rau und Aras, Araks, Araxes) kannten, aber nur eine ungenaue Kenntnis über ihren Verlauf hatten. Er wies auch darauf hin, dass die mittelalterlichen arabischen Geographen die Wolga recht gut kannten und sie bis zur Gegenwart bei ihrem Namen Itil', Etel', Etil' oder Atil' nannten. Der Artikel selbst ging von der finnischen Herkunft des Namens Wolga aus, unter dem der Fluss jetzt "in ganz Europa" bekannt sei und der "heiliger Fluss" bedeute. Das Aufkommen der Dampfschiffe und der Dampfschifffahrt auf der Wolga verdeutlicht vor allem das Wechselverhältnis zwischen technologischem und kulturellem Wandel. Die Bevölkerung Russlands kannte ihr Land zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits deutlich besser - auch wenn diese allgemeine Aussage empirisch nur schwierig zu belegen ist -, weil sich die infrastrukturelle Erschließung verbessert hatte und die Alphabetisierung der Bevölkerung fortgeschritten war. Die Wahrnehmung von Orten, Regionen und Ereignissen begann sich zu wandeln; abstrakte Kategorien wie Nation und Staat wurden mit konkreten Orten und historischen Spuren in der materiellen Kultur verknüpft und gewannen in der Bevölkerung an Bedeutung. Der kulturgeographische und -historische Horizont der Bevölkerung ordnete sich räumlich neu. Orte und Regionen eines Landes wurden von einem wachsenden Bevölkerungsanteil auch miteinander oder im internationalen Maßstab verglichen und erhielten vor diesem Hintergrund neue Bedeutungen. Da Geschichte für die Legitimations- und Identifikationsprozesse von Gemeinschaften im 19. Jahrhundert an Bedeutung gewann, vor allem als nationale Gemeinschaften, erhielten Orte und Regionen ihre Bedeutung immer mehr durch ihre Bedeutung für die nationale Geschichte. Die Ewigkeitsillusionen der Nationen weckte im 19. Jahrhundert bei ihren Protagonisten das Interesse, sich lebendige kollektive Erinnerungen und Erinnerungsorte als nationale anzueignen. Das war ein Homogenisierungsprozess, der sowohl integrierte als auch ausschloss. Die Wolga wird im Folgenden in diesem allgemeinen Kontext als ein Erinnerungsort untersucht, der - so meine Hypothese - eine Umdeutung erhielt und in unterschiedlichem Ausmaß nationalisiert wurde. Erinnerungsorte haben die Funktion, eine kollektive Erinnerung zu stabilisieren. Sie entstehen in Krisensituationen, wobei die Krisen häufig in einem drohenden Verlust an Tradition, an lebendiger kollektiver Erinnerung bestehen. Nach Pierre Nora können Erinnerungsorte diese Funktion nur dann überzeugend übernehmen, wenn eine materielle Dimension des Ortes und eine symbolische Dimension des Gedächtnisses zusammentreffen. Wenn die Wolga als ein Erinnerungsort untersucht wird, der im 19. Jahrhundert einer Nationalisierung unterlag, so ist noch einmal darauf hinzuweisen, dass er nicht durch ein bestimmtes Ereignis (eine Schlacht) oder eine bestimmte Person (ein Held, ein Denkmal) strukturiert ist und dass er für unterschiedliche Akteure bis zur Mitte des 19. Jahrhundert sehr verschiedene (auch regional verschiedene) Bedeutungen hatte…


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