Herausgeber:
Campus Verlag GmbH
Auflage:
1. Aufl. 09.2009
Erscheinungsdatum:
30.09.2009
Das "Who's Who" der Sexualforschung
Nach einem Vorlauf von mehr als drei Jahrzehnten des Suchens und Sammelns im Frankfurter Institut für Sexualwissenschaft legen in diesem Band 60 angesehene Forscherinnen und Forscher aus aller Welt 200 faszinierende Artikel über Leben und Werk bedeutender Sexualforscherinnen und Sexualforscher vor. Hierzu gehören prominente Fachvertreter, die Institute, Zeitschriften oder Fachgesellschaften gründeten, weichenstellende Kongresse abhielten, Standardwerke verfassten, Theorien entwickelten oder provozierende Hypothesen aufstellten. Aber auch wenig bekannte, zu ihrer Zeit und in ihrem Bereich jedoch nachhaltig wirkende Persönlichkeiten sowie Außenseiter, denen die Sexualwissenschaft wichtige Impulse verdankt, sind im vorliegenden Lexikon zu finden ebenso bekannte Philosophen und Soziologen wie etwa Michel Foucault, Norbert Elias oder Niklas Luhmann. Ein besonderes Anliegen ist den Herausgebern die Erschließung des Werkes jener jüdischen Sexualwissenschaftler, die der Naziterror aus Deutschland vertrieben hat. Es gibt kein vergleichbares Werk weltweit.
Vorwort
Das »Who's Who« der Sexualforschung
Autorentext
Günter Grau, Medizinhistoriker, arbeitete an den medizinhistorischen Instituten der Universität Leipzig und der Charité Berlin sowie am Institut für empirische und angewandte Soziologie der Universität Bremen.
Leseprobe
Das deutsche Wort "Sexualwissenschaft" hat unseres Wissens der Psychoanalytiker Sigmund Freud (1898:498) als erster verwandt, als er die Bedeutung sexueller Ereignisse für die Entwicklung von Neurosen erörterte: "Man erfährt dabei allerlei aus dem Sexualleben der Menschen, womit sich ein nützliches und lehrreiches Buch füllen ließe, lernt es auch nach jeder Richtung hin bedauern, daß die Sexualwissenschaft heutzutage noch als unehrlich gilt." Das neue Wort Sexualität/sexualité/sexuality, das Homer, die Bibel und Shakespeare noch nicht kannten, löste sie nach und nach alle ab: Venus Urania, Venus vulgivaga, Minne, Wohllust, Wollust, piacere, amore, Nisus usw. Sexualität als theoretisches und praktisches, als ästhetisches und moralisches Problem wurde zum Bestandteil einer profanen Kultur, in der sich Bürger als selbstmächtige Subjekte begriffen, die an die Stelle religiöser Verkündigung ihre eigene Vernunft und Reflexionsphilosophie zu setzen suchten. Dieser Prozess spielte sich vor etwa 200 Jahren ab, also vor wenigen Generationen, und zwar nur in Europa und Nordamerika. Unsere Sexualität ist folglich blutjung. Verglichen mit der neuzeitlichen europäisch-nordamerikanischen Gesellschaft, war für die europäische mittelalterliche Gesellschaft "die extreme Uneinheitlichkeit des Verhaltens" charakteristisch (Elias 1969, Bd.1:157 f). Jahrhunderte, einen einzigartigen "Prozess der Zivilisation" lang, dauerte es, bis die Alteuropäer allgemein und effektiv für Lohnarbeit, Sittlichkeit und Sexualität disponiert waren, bis das Sexuelle gleichzeitig hervorgehoben und verschwiegen werden konnte, "so erhoben und erniedrigt" wie keine andere "Naturerscheinung" (Hirschfeld 1908:9). Unvorstellbar für einen mittelalterlichen Menschen, was für uns einheitlich selbstverständlich ist: in einem dunklen Kino sitzen, einen erregenden Film sehen, die "Sexualobjekte" in Greifnähe haben - und drang- wie affektgedrosselt bleiben. Die "sexuelle Frage" konnte im Sinn der Aufklärung und Emanzipation erst gestellt werden, als die menschlichen Vermögen fetischisierend vergesellschaftet wurden und die Not der Menschen nicht mehr überwiegend Hungersnot war. Jetzt ging es um die Befreiung der Ehe von kirchlicher und staatlicher Bevormundung, um Kontrazeption und Geburtenregelung, um Sexualaufklärung und -erziehung der Heranwachsenden, um den Kampf gegen die Prostitution und die Geschlechtskrankheiten, um den Schutz lediger Mütter und unehelicher Kinder, um eugenische "Verbesserung" der Nachkommen, um die Transformation von "Perversitäten" und "Perversionen" von angeblichen Sünden oder Verbrechen in Krankheiten oder gar Vorlieben, um Toleranz gegenüber homosexuellen Männern und Frauen, um die Liberalisierung des Sexualstrafrechts, um die Gleichberechtigung der Frau und die so genannte Freie Liebe. Fraglos ist es eine historische Errungenschaft, wenn es nicht mehr um Hungersnöte geht, sondern um soziale Fragen, zu denen die "sexuelle Frage" gehört. Der alte Kampf ums nackte Überleben ist dann bereits wesentlich erweitert. Im Sinn der "Dialektik der Aufklärung" (Horkheimer und Adorno 1947) liegen bei den Sexualreformen und "sexuellen Revolutionen" Befreien und Unterdrücken, Befriedigen und Versagen ineinander. Repression und Freisetzung des Sexuellen liegen schon deshalb ineinander, weil die Tendenz zur Unterdrückung ? von der Foucault (1976) im Auftakt seiner "Histoire de la sexualité" meinte, sie sei falsch betont worden ? die Tendenz zur Freisetzung logisch voraussetzt; ohne sie kann von jener gar nicht gesprochen, geschweige denn etwas erfahren werden. Philosophisch, sexualwissenschaftlich und politisch ist entscheidend, als was die Freisetzung letztlich angesehen wird. In den Jahrzehnten um 1900 ereignete sich die erste "sexuelle Revolution". Im Zentrum der sexuellen Frage stand die Frage nach Lebenssinn und Lebensglück. Die Gesellschaftsmitglieder verbanden ihre Wünsche nach Glück und Rausch zunehmend mit der sexuellen Sphäre. Die Idee der freien, gleichen, individuellen Geschlechtsliebe, die die Bourgeoisie als neuen sittlichen Maßstab in die Welt gesetzt hatte, sollte endlich Wirklichkeit werden: Liebe als ein Menschenrecht beider, des Mannes und der Frau, Liebe als freie Übereinkunft autonomer Individuen, die Gegenliebe beim geliebten Menschen voraussetzt, Liebesverhältnisse als Gewissensverhältnisse von Dauer wie von Intensität. An dieser Idee wird bis heute festgehalten, weil die Liebe in unserer Warenwelt eine einzigartige Kostbarkeit ist, die weder produziert noch gekauft werden kann. Hundert Jahre nach der historischen Geburt der kulturellen Sexualform entsteht eine Sexualwissenschaft, die sich auch als solche versteht. Von Sexualforschung im emphatischen Sinn kann erst gesprochen werden, wenn es nicht mehr vorrangig darum geht, Geschlechter anatomisch aus "Zwittern" heraus zu stanzen oder den Vorgang der Reproduktion zu erforschen oder seltene sexuelle Vorlieben als Perversionen aufzulisten, sondern darum, wie "gesunde" Sexualität von Männern und von Frauen beschaffen ist, wie erreicht werden kann, dass ungewöhnliche, bisher verpönte oder verfolgte sexuelle Vorlieben in Anstand und Würde gelebt werden können und vor allem: wie eine Gesellschaft ihre Sexualform produziert. Wie entsteht eine gesellschaftliche Installation, in der sich materiell-diskursive Kulturtechniken, Symbole, Lebenspraktiken, Wirtschafts- und Wissensformen auf eine Weise vernetzen, die eine historisch neuartige Konstruktion von Wirklichkeit entstehen lässt? Wie wurde unsere Sexualität zu Gefühl, Tat-Sache und Begriff als ein allgemein Durchgesetztes und isoliert Dramatisiertes? Da sich solche gesellschaftlichen Installationen, einmal etabliert, aus sich selbst heraus generieren, imponieren sie in eher alltagssoziologischer Betrachtung als Sachzwänge, denen nichts Wirksames entgegengesetzt werden kann. Und in eher alltagspsychologischer und ethisch-rechtlicher Betrachtung erscheinen sie als Normalität und Normativität, die einzig in der Lage sind, Ordnung, Ruhe und Sicherheit zu garantieren. Die 199 Protagonisten, die wir in diesem Personenlexikon der Sexualforschung in 197 biobibliografischen Artikeln präsentieren, stammen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, aus dem 19.und 20.Jahrhundert, wobei wir entschieden haben, nur verstorbene Forscherinnen und Forscher aufzunehmen und nur in besonderen Fäll…
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