Distanziertes Mitleid

Distanziertes Mitleid

Einband:
Paperback
EAN:
9783593396460
Untertitel:
Mediale Bilder, Emotionen und Solidarität angesichts von Katastrophen
Genre:
Medien & Kommunikation
Autor:
Tobias Scholz
Herausgeber:
Campus Verlag GmbH
Auflage:
1. Auflage
Anzahl Seiten:
332
Erscheinungsdatum:
30.04.2012
ISBN:
978-3-593-39646-0

Immer öfter werden wir durch Medien Teil einer Solidargemeinschaft, die aus der Distanz Ereignisse verfolgt: Weltmeisterschaften und große Hochzeiten, aber auch Tragödien und Katastrophen. Vor allem Berichte von Naturkatastrophen fordern unsere emotionale Teilhabe heraus. Sie bedienen unsere Schaulust - vor allem aber "managen" sie die gesellschaftliche Bewältigung der Krise, indem sie ferne Zuschauer an einem Ritual der Reintegration beteiligen und zu solidarischem Handeln motivieren. Tobias Scholz vergleicht die Bilder des Erdbebens von Lissabon 1755 mit zeitgenössischen Bildernarrationen von Katastrophen im Hinblick auf ihre sozialintegrative Funktion und erzählt auf diese Weise eine Mediengeschichte des modernen Mitleids.

Autorentext
Tobias Scholz, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Soziologie des John-F.-Kennedy-Instituts für Nordamerikastudien der FU Berlin.

Leseprobe
Solidarität, der Imperativ, Hilfsbedürftigen ohne Erwartung der Wechselseitigkeit handelnd beizustehen, ist der aufgeklärte Wert schlechthin. Der Anspruch an solidarisches Handeln kann viele Formen annehmen, am nachdrücklichsten artikuliert er sich im Fall medienvermittelter Katastrophen, in denen die Plötzlichkeit der Ereignisse die Unmittelbarkeit des Handelns fordert. Hier wird das Dilemma dieses Anspruchs an die Solidarität evident, eindringlich zeigt sich die besondere Eigenschaft der Medien, Menschen sich nahe zu bringen und sie gleichzeitig auf Distanz zu halten. Diese Ambivalenz der Mediatisierung - die permanente Herstellung von Nähe und Distanz im Verhältnis zu fernen Anderen, Leidenden, Opfern von Katastrophen - steht im Zentrum einer Ethik der (Massen-)Medien. Aber nicht nur den Medien als Vermittler ferner Ereignisse stehen wir ambivalent gegenüber, auch unseren eigenen Emotionen misstrauen wir: Ist unsere Solidarität echt? Und wenn wir tatsächlich spenden: Wird unser Mitleid nicht zum Selbstzweck, zur Legitimation unserer Privilegien und hat mit dem konkreten leidenden Anderen gar nichts zu tun? Erschöpft sich unser Mitleidsvermögen vielleicht sogar angesichts einer Inflation an Schreckensnachrichten? Die vorliegende Studie liefert in Form einer Diskussion der sozialen Funktion von Leidenskommunikation und medialen Emotionen in modernen Gesellschaften Antworten auf diese Fragen. Wir kennen das Szenario gut - dennoch sind wir von seiner Plötzlichkeit und Gewalt, mit der es in unseren Alltag hereinbricht und unsere ganze Aufmerksamkeit auf sich zieht, jedes Mal aufs Neue überrascht. Die Tsunamikatastrophe im Indischen Ozean 2004 und das Erdbeben von Haiti 2010 markieren Höhepunkte einer Kette katastrophischer Weltereignisse, in deren Folge eine unmittelbare, globale Solidargemeinschaft entstanden ist. Zwischen den Betroffenen der Katastrophen und den von der medialen Berichterstattung erreichten distanzierten Zeugen des Geschehens konnte in diesen Fällen offenbar eine spezielle Beziehung hergestellt werden. Besonders ist diese Beziehung deshalb, weil die distanzierte Teilhabe am Leidensereignis in diesen Beispielen nicht selbstgenügsam blieb: Bei entfernten Anderen wurden in einem überproportionalen Maße altruistische Impulse aktiviert, eine beachtliche Spendenbereitschaft war zu registrieren. Um die Umstände dieser Rückkopplung - der Herstellung fernen Mitleids und eines daraus resultierenden Handlungsimpulses - verstehen zu können und theoretisch beschreibbar zu machen, untersucht diese Studie einen paradigmatischen Fall distanzierten Mitleids und globaler Solidarität: die Tsunamikatastrophe im Indischen Ozean Ende 2004. Am Vormittag des 26. Dezember 2004 - dem zweiten Weihnachtsfeiertag - erreicht die Nachricht einer verheerenden Naturkatastrophe die europäische Öffentlichkeit. Ein Seebeben vor der Küste Sumatras hat einen Tsunami ausgelöst, eine Flutwelle, die mit enormer Zerstörungskraft die Küsten und Strände des Indischen Ozeans trifft. Besonders betroffen sind Indonesien, Thailand, Indien und Sri Lanka. Fast eine Viertel Million Menschen kommen bei der Katastrophe ums Leben. Unter den Toten und Verletzten befindet sich eine Vielzahl von Touristen aus aller Welt, die ihren Weihnachtsurlaub in Südostasien verbrachten. Die Nachricht löst weltweit äußerst starke emotionale Reaktionen aus. Bilder der Zerstörung, von Toten und Verletzten, der Suche nach Angehörigen und Augenzeugenberichte dominieren die Berichterstattung. Die Anteilnahme am Geschehen in Asien schlägt sich unter anderem in einer außergewöhnlichen Hilfsbereitschaft nieder. Im Jahr 2005 werden in Deutschland 670 Millionen Euro an Privatspenden für die Katastrophenhilfe nach dem Tsunami gesammelt. Neben diesem Beispiel zeigt auch jene Spendensumme, die nach dem Erdbeben in Haiti im Januar 2010 zustande kam, dass wir heute immer häufiger zu Zeugen eines großen Ausmaßes an Altruismus werden, der Menschen dazu bewegt, zu helfen, obwohl sie zu den von der Katastrophe Betroffenen keinerlei direkten persönlichen Bezug haben. Über die Ursachen der enormen Hilfsbereitschaft und Anteilnahme im Falle des Tsunami wurde viel gemutmaßt. Einfache Erklärungen dafür konnten bis dato nicht geliefert werden. Dass beliebte Reiseziele betroffen waren und sich unter den Opfern in einigen Regionen ebenso viele Touristen wie Einheimische befanden, bleibt als Begründung ähnlich vage wie die These, in der Weihnachtszeit seien die Menschen mit Spenden besonders freigiebig. Die Entstehung einer weltgesellschaftlichen, "episodischen Solidarität" (vgl. Holzer 2008), die sich nach der Katastrophe diagnostizieren ließ, ist einer komplexen Konstellation geschuldet, aus der einzelne ausschlaggebende Parameter schwerlich herausgehoben werden können. Fest steht zumindest, dass keine spezifischen Normen einen derartigen Solidaritätseffekt fordern oder erwartbar machen: Nichts verpflichtet uns zum Mitleid und zum Helfen, schon gar nicht auf einer so umfassenden, globalen Ebene. Es stellt sich deswegen die Aufgabe, mögliche Muster oder Mechanismen zu finden und zu beschreiben, die in verschiedenen Beispielen von Katastrophenereignissen an einer erfolgreichen Aktivierung solidarischer und altruistischer Impulse beteiligt waren beziehungsweise sind.

Inhalt
Inhalt Einleitung 9 1 Die bildliche Katastrophenerzählung als Re-Integrationsritual 21 1.1 Das Medienritual der Re-Integration 24 1.2 Die bildliche Katastrophenerzählung des Tsunami 2004 und des Erdbebens von Lissabon 1755 31 1.3 Erschöpftes Mitleidsvermögen? 55 1.4 Fragestellung und Plan der Studie 70 2 Distanziertes Mitleid und modernes Zuschauen 73 2.1 Antikes und christlich-neuzeitliches Mitleid 76 2.2 Distanziertes Mitleid im 18. Jahrhundert 86 2.3 Das Sehen vor neuen Aufgaben - Zuschauen im 18. Jahrhundert 107 2.4 Diderots vierte Wand und der aktiv abwesende Betrachter 127 3 Soziale Integration und kontingente Rituale 141 3.1 Die Disziplinierung des Sehens und der Gefühle 143 3.2 Distanzverhältnisse, Differenzierung und Entbettung 156 3.3 Theoretische Deutungen moderner Differenzierung und Integration 162 3.4 Aufführungen des Sozialen und das Kontingentwerden von Ritualen 189 4 Soziales Bildverstehen 197 4.1 Sehen und Gesehenwerden - Intersubjektivitätstheoretische Grundlagen einer Theorie des Bildverstehens 201 4.2 Wahrnehmungspsychologische Grundlagen einer Theorie des Bildverstehens 235 4.3 Handeln in doppelter Kontingenz - Handlungstheoretische Grundlagen einer Theorie des Bildverstehens 265 4.4 Soziales Bildverstehen 290 5 Ausblick - Medienrituale, episodische Solidarität und Spenden 305 Literatur 321


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