Unter der Hand

Unter der Hand

Einband:
Kartonierter Einband
EAN:
9783593510736
Untertitel:
Zur Materialität der Neuen Typografie
Genre:
Kulturgeschichte
Autor:
Fabian Grütter
Herausgeber:
Campus Verlag GmbH
Auflage:
1. Auflage
Anzahl Seiten:
256
Erscheinungsdatum:
30.09.2019
ISBN:
978-3-593-51073-6

Der (typografische) Modernismus hat einen festen Platz in unserem Bild der Zwischenkriegszeit erlangt. Eine Zeit des »Neuen Sehens«, die Geburtsstunde von Plakaten, Schaufenstern oder Leuchtreklamen. Die vorliegende Studie eröffnet eine neue, überraschende Perspektive auf die tiefgreifenden typografischen Verwerfungen dieser Zeit. Es wird aufgezeigt, dass sich die Entstehung der Neuen Typografie der 1920er Jahre nicht allein auf Veränderungen der visuellen Kultur zurückführen lässt. Tatsächlich spielten Veränderungen der haptischen Kultur, besonders das Aufkommen moderner Büroarbeit, eine ebenso wichtige Rolle. Ein Plädoyer dafür, dass auch im digitalen, »visuellen« Zeitalter Fragen der Handhabung von Schriftträgern nicht vernachlässigt werden können.

Autorentext
Fabian Grütter, Dr. sc., forscht als Postdoc an der Professur für Wissenschaftsforschung an der ETH Zürich. Dort ist er Redaktionsleiter des Publikationsprojekts »cache«, das sich mit Geschichte und Gegenwart der wissenschaftlich-technischen Welt befasst.

Leseprobe
Geteilte Zeit. Eine Einführung Die Neue Typographie gestaltet den Text, indem sie den Blick des Lesers von einem Wort, einer Gruppe, zur andern führt. Jan Tschichold Sucht man nach einem Quellenbeleg, der das Bild dessen, was die Neue Typografie war, auf den Punkt bringt, bietet sich das eben angeführte Zitat aus Jan Tschicholds Die Neue Typographie von 1928 an. Indem es die modernistische Typografie der Zwischenkriegszeit als Unterfangen schildert, das es auf die Blickführung von Leserinnen abgesehen hatte, deckt es sich mit den historiografischen Befunden zum fraglichen Phänomen. In einer Untersuchung von 2005, die sich eingehend mit der Neuen Typografie auseinandersetzt, liest man beispielsweise: »The psychologists of the laboratories and the typographers of the avant-garde met on the common ground of visual attention as an object of knowledge.« Wie im Quellenbeleg wird auch hier darauf abgehoben, dass es der typografischen Avantgarde in erster Linie um Fragen der Visualität ging. Dieser Befund, so lässt sich verallgemeinern, ist Ausdruck einer Forschungsperspektive, wie sie jüngst den Blick auf die Neue Typografie strukturiert hat. So schien es in den vergangenen ca. 35 Jahren ausgemacht, die Neue Typografie als zentralen Bestandteil dessen zu verhandeln, was Janet Ward als Weimar surfaces bezeichnet hat. Darunter versteht sie Artefakte, die in der Zwischenkriegszeit Konjunktur hatten und die damalige visuelle Kultur, insbesondere die urbane, entscheidend formten eine Kultur, die gemäß unserem heutigen Wissen geprägt war von einer Dynamisierung des Sehens. Dabei bewegte sie sich stets an der Grenze zur kompletten visuellen Überforderung. Verantwortlich dafür waren neue Technologien und Medien, die direkte Auswirkungen auf die visuelle Wahrnehmung hatten: Straßenbahnen, Autos und Flieger genauso wie modernistische Gebäudefassaden, Werbeplakate, Kinofilme oder Schaufenster die ikonischen Weimar surfaces. Und damit auch die Neue Typografie. Dadurch, so die erkenntnisleitende These der vorliegenden Studie, sind aus einer körperhistorischen Warte diejenigen Aspekte der modernistischen Typografie unterbelichtet geblieben, die Aufschluss über die haptische Kultur der Zwischenkriegszeit geben. Das ist insofern bemerkenswert, als die Neue Typografie diesbezüglich erhellende Hinweise liefert. Tschicholds oben zitiertes Handbuch beispielsweise behandelt neben Fragen der Blickführung auch solche der haptisch-materiellen Kultur: Ohne Ordnung ist eine solche Vielheit [der Korrespondenz] nicht zu beherrschen. Das alte Quartformat und die verschiedenen Sonderformate, zu denen noch das alte Folioformat (ein Normversuch der Behörden) kam, erschweren durch ihre sehr verschiedenen Breiten und Höhen das Wiederauffinden, wenn sie es nicht ganz unmöglich machen. Über die Vielfalt an Papierformaten respektive die Normierungsversuche ebendieser durch Behörden kommt Tschichold, die Galionsfigur der modernistischen Typografie, auf die Handhabung von Geschäftsbriefen im Büroalltag zu sprechen. Als Anhänger der Neuen Typografie bekennt er sich zu den um 1920 veröffentlichten Papierstandards der Normungsin-stitute, wie man sie in vielen Ländern noch heute verwendet. Mit der Arbeit im Büro, dem darin notwendigen Umgang mit Papier und dessen Standardisierung durch Normungsinstitute ist ein Komplex angeschnitten, der ein zentraler Bestandteil der Rationalisierung von Arbeit darstellte, wie sie Anfang des 20. Jahrhunderts nicht nur in den industriellen Fabriken, sondern auch in den Verwaltungsabteilungen um sich griff. Folgt man diesen arbeits-, wissens-, technik- und medienhistorischen Verwicklungen der Neuen Typografie, entsteht ein Bild von ihr, das sich aus einer körperhistorischen Perspektive vom bekannten unterscheidet: eines, bei dem sowohl auf Seiten der Typografen als auch auf Seiten der Nutzer Aspekte der Handhabung im Mittelpunkt stehen. Damit werden die auf Visualität fokussierenden Charakterisierungen keineswegs negiert, sondern vielmehr ergänzt, sodass der kulturtechnische Einsatz der Neuen Typografie insgesamt klarer zutage tritt. Dies bedeutet allerdings nicht, dass sich das Verständnis der Neuen Typografie durch die hier vorgenommenen Ergänzungen von visuellen durch haptische Aspekte nicht grundlegend verändern würde. Tatsächlich versucht die vorliegende Untersuchung zu zeigen, dass damit die stille Übereinkunft, avantgardistische Typografie als Bestandteil einer Hochkultur irgendwo zwischen Futurismus, Konstruktivismus und Dadaismus zu begreifen, relativiert werden muss. Polemisch ausgedrückt könnte man auch sagen: Modernistische Typografie als Gegenstand von Ausstellungen in Kunstmuseen sowie schönen coffee table books zu verstehen, heißt, das Phänomen anachronistisch zu deuten. Auch wenn dieser Anachronismus überaus ertragreiche Forschung hervorgebracht hat: Die Neue Typografie war vielmehr Bestandteil jenes technisch-wissenschaftlichen Dispositivs, das ab Ende des 19. Jahr-hunderts begann, die Künste und Geisteswissenschaften als Kulturträger abzulösen. So gesehen trifft es die einschlägige Bezeichnung des Neuen Typografen als »artist turned engineer« nur bedingt. Denn um Kunst ging es den wenigsten. Stattdessen verstanden sie sich als Techniker eines arbeitenden Körpers. Vor diesem Hintergrund der Rationalisierung gewinnt die historiografische Vernachlässigung der materiell-haptischen Aspekte der Neuen Typografie an Relevanz. Immerhin wurden mit ihnen auch die arbeitshistorischen Verknüpfungen verdeckt. Es ist damit eine für die Typografiegeschichte als Ganzes durchaus belangreiche Frage, woher das visuelle Primat stammt, wenn dessen Kehrseite, die Haptik, doch einen fruchtbaren Ansatzpunkt für die Arbeitsgeschichte bildet. Einen unerwarteten, aber entscheidenden Anstoß zur historischen Deu¬tung dieses Umstands liefert die niederländische Kulturtheoretikerin Mieke Bal. In ihrem Buch Quoting Caravaggio: Contemporary Art, Preposterous History von 1999 erzählt sie die Geschichte der Caravaggio-Rezeption in den Werken von zeitgenössischen Künstlern und Künstlerinnen wie Dotty Attie, Ken Aptekar oder Ana Mendieta. Dabei gelangt Bal zur Einsicht, dass chronologisch gesehen ältere Ereignisse und Phänomene die Nachwirkung ihrer späteren Verarbeitung sind. Mit anderen Worten: Der historische Maler Caravaggio ist stets das Produkt einer späteren künstlerischen Auseinandersetzung mit ihm. Das dadurch umrissene Geschichtsbild nennt Bal »preposterous history«. Es versteht Geschichte nicht als linearen oder gar teleologischen Prozess, sondern als auf Dauer gestellten Bruch: »In contrast to the notion of tradition based on continuity, I propose to look at contemporary Cara¬vaggio as a kind of recycling that implies a break.« Die epistemologische Voraussetzung für eine solche Verwicklung (»entanglement«) zweier chronologisch unverbundener Zeiträume wie dem Barock und der Postmoderne bezeichnet Bal als »shared tim…


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