Im Vogelblick

2084. Die Eine Welt versinkt im Chaos. Saboteuren ist es gelungen, die Menschen dort zu treffen, wo sie es am wenigsten vermutet hätten - bei ihrer Fähigkeit zu sehen. Wie vorgeschrieben holen sich die Menschen regelmäßig die Updates für ihre EyeChips, mit denen sie ihre Sehschwächen ausgleichen, und ahnen nicht, dass sie sich dabei gefährliche Viren in ihre Köpfe laden. Image:error heißt es heute in der Computersprache, wenn die Bilder nicht stimmen, die sich einer aus dem Netz holt. Image:Terror wird daraus, wenn die Bilder nicht mehr stimmen, die einer mit seinen eigenen Augen zu sehen bekommt ... Die alte, vermeintlich blinde Chinesin Suzie Wang überredet ihre junge Nurse Rose Mary zu zwei ungewöhnlichen Reisen: In Tela, dem Städtchen an der Karibikküste von Honduras, werden die beiden Frauen Zeuginnen der ersten Liebe eines Garífuna-Mädchens zu einem jungen dänischen Touristen; auf Thailands Palmeninsel Koh Samui erleben sie die verhängnisvolle Begegnung einer jungen chinesischen Strandmasseurin mit einem Kunststudenten vom Festland. Ohne es zu ahnen, beginnt Rose Mary am Rad des Schicksals zu drehen. Auf ihren Reisen in die Vergangenheit - die Reisen in unsere Gegenwart sind - gerät sie in dramatische Geschichten von Liebe, Hoffnung und der Suche nach Glück. Sie entwickelt dabei ihre ganz persönliche Sicht auf das Leben und die Liebe, eine Sicht, in der jeder Augenblick zählt. Nikolaus Glattauer entwirft eine beklemmende gesellschaftliche Utopie, die bei näherer Betrachtung nicht allzu fern scheint ...

Autorentext
Nikolaus Glattauer, 1959 in der Schweiz geboren, lebt als Schriftsteller, Gebrauchstexter und Lehrer in Wien. Sein erster Roman, »Jakobus, Stiefsohn Gottes«, erschien 2002 bei Jung und Jung. »Im Vogelblick« ist sein zweiter Roman.

Leseprobe
"'Nicht blind?', wirst du fragen. Du wirst nachfragen müssen. Du hast richtig gehört, ich bin nicht blind, werde ich sagen, ich habe dich belogen, um dich nicht zu verlieren. Wüssten sie, werde ich dir sagen, dass ich sehe, ließen sie dich nicht mehr täglich zu mir kommen. Ich müsste mich selber um die UpLoads kümmern: um Luft, Wasser, Energie. Aber das will ich nicht. Ich will, dass du täglich zu mir kommst.
Dann werde ich eine kurze Pause machen. Du wirst die Stille nicht unterbrechen, das ist einer deiner Vorzüge, die Stille ist immer sicher vor dir. Ich sehe also, werde ich sagen, aber glaube nicht, dass ich sehe, wie ihr seht. Ich sehe wie ein Vogel, werde ich sagen, sehe von oben, sehe alles im Zusammenhang, sehe im Schutz der Entfernung. Das war nicht immer so. Als ich meine Eltern das letzte Mal sah, waren ihre Gesichter groß wie die von Riesen, darin die Augen weit aufgerissen, in den Pupillen spiegelten sich die Feuerbälle. Bis der Pilot die großen Gesichter meiner Eltern in die Menge zurückstieß, das Gesicht meines Vaters, das Gesicht meiner Mutter, sie in die Feuerwand stieß, die eben aus dem Himmel fiel. Als sich der Hubschrauber mit mir erhob, als letzter in einer Staffel von Rettungshubschraubern, als letzter überhaupt, lag auch ich bereits in den Armen der Flammen.
- Schnell, ihre Haare haben Feuer gefangen, rief einer gegen den Lärm des Propellers an, der mir gegen die Ohren schlug. Sie löschten mir das brennende Gesicht mit Decken und Tüchern.
- Ihre Augen sind kaputt. Desinfizieren und vernähen!, hörte ich einen brüllen, während ringsum die Krähen in die nassen Wolken stiegen, um dort ihre brennenden Gefieder zu löschen. Da sah mich die Krähe und schenkte mir ihre Augen. Damals dachte ich, es geschähe aus Mitleid.
Als sie mich an Bord des RedCrossers notoperierten, sah ich bereits dabei zu. Von oben. Aus sicherer Entfernung ..."

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