Untertitel:
Theorie und Gesellschaft 65
Genre:
Politische Soziologie
Herausgeber:
Campus Verlag
Erscheinungsdatum:
30.11.2008
Theorie und Gesellschaft
Geben, Annehmen und Erwidern nach Marcel Mauss bildet dieser Dreiklang die Basis des sozialen Lebens. Um diese lange Zeit nur sozialanthropologisch rezipierte These hat sich seit den 1990er-Jahren eine produktive Diskussion in der französischen Soziologie entsponnen, als deren Wortführer Alain Caillé gelten kann. Er fordert die Sozial- und Kulturwissenschaften auf, neben dem auf Gewinn abzielenden Warentausch auch Beziehungen des Gebens und Erwiderns als Grundprinzipien der Vergesellschaftung anzuerkennen. Der Band versammelt zentrale Beiträge Caillés zur Auseinandersetzung mit Mauss, zur Sozialtheorie der Gabe und der politischen Dimension dieses Paradigmas sowie zur Theorie des Opfers und des Symbols.
Vorwort
Theorie und Gesellschaft
Autorentext
Alain Caillé ist Professor für Soziologie an der Universität Paris X Nanterre. 1981 gründete er die M.A.U.S.S.- Bewegung (Mouvement Anti-Utilitariste dans les Sciences Sociales), die sich gegen den Utilitarismus in den Sozialwissenschaften wendet.
Leseprobe
Der Pariser Sozialwissenschaftler Alain Caillé ist hierzulande ein noch weitgehend Unbekannter - vielleicht auch deshalb, weil er sich in seiner akademischen Karriere intensiv mit Marcel Mauss, einem "berühmten Unbekannten", auseinandergesetzt hat und deshalb Rezeptionsbarrieren gleichsam vorprogrammiert waren. Caillé erblickt in den Schriften von Marcel Mauss (1872-1950), dem Neffen Émile Durkheims, einen ungehobenen Schatz von großer Relevanz für derzeitige soziologische Theoriedebatten. Der vorliegende Band ist daher primär als eine Reflexion über Mauss, insbesondere über sein berühmtestes Werk Die Gabe aus dem Jahr 1924 zu betrachten. Jedoch beinhaltet er mehr als nur den Versuch der Erschließung Mauss'scher Gedanken. Vielmehr betrachtet Caillé Die Gabe als einen zentralen Ausgangspunkt für systematische Theoriearbeit: Mauss' Essay - so Caillé - vermag den Sozialwissenschaften überhaupt erst den Zugang zu ihren klassischen Fragestellungen zu eröffnen, etwa wie sich soziale Handlungen konstituieren und wie sich soziale Ordnung herausbildet. Mauss sei in seiner Analyse weit über Durkheims Antworten auf diese Fragen hinausgegangen, indem er auf höchst kreative Weise soziale Interaktion und Ordnung auf den Zyklus von Geben, Annehmen und Erwidern zurückbezogen habe. Zugleich sei in einer solchen Perspektive die kulturelle Basis des Sozialen mitgedacht worden: Idealismus und Materialismus überwindend stellt Mauss nämlich heraus, dass Gaben nicht nur Symbole, sondern Symbole auch Gaben sind. Diese Überlegungen von Mauss sind für Caillé von zentraler Bedeutung, zeigen sie doch, dass sich im Anschluss daran ein "drittes Paradigma" entwickeln lässt, das den normativistischen Holismus (à la Durkheim, Parsons u.a.) ebenso überwindet wie den utilitaristischen Individualismus (etwa in Form von Rational-Choice-Theorien). Das Sich-Einlassen auf Caillés Thesen fällt deshalb so schwer, weil die in Deutschland vorangetriebene soziologische Theorie kaum dazu beigetragen hat, Mauss als Sozialtheoretiker ernst zu nehmen. In der Gründungs- und Aufbauphase der bundesdeutschen Soziologie setzte sich lediglich René König systematisch mit Mauss und anderen Durkheimianern auseinander (König 1978a, 1978b). Den anderen Fachvertretern in dieser wie auch noch in späterer Zeit war die thematische und theoretische Nähe zwischen den Arbeiten von Durkheim und Mauss wohl zu groß, als dass man die Eigenständigkeit des Mauss'schen Denkens hätte würdigen können. Da man zudem Mauss aufgrund dessen langer Beschäftigung mit nicht-europäischen Kulturen bequem der Ethnologie zuschlagen konnte, blieb die Rezeption seines Werkes in der deutschen Soziologie lange aus. Dies hat sich erst jüngst geändert. Stephan Moebius (2006a) legte einen Einführungsband in Mauss' Leben und Werk vor, und Mauss' Gaben- und Reziprozitätstheorie hat zuletzt einige Aufmerksamkeit auf sich gezogen (Moebius/Papilloud 2006; Adloff/Mau 2005, 2006; Adloff 2007; Hillebrandt 2007). Auch wenn Mauss' Essay Die Gabe mit diesen Texten eine erste Würdigung im deutschsprachigen Raum erfahren hat, so steht eine systematische sozialtheoretische Rezeption seines Gesamtwerks noch immer am Anfang. Dies ist in Frankreich anders. Seit etwa Mitte der 1990er Jahre gibt es dort eine intensive und fruchtbare Debatte um Mauss' Beitrag zur soziologischen Theorie. Dabei wird mit der Frage, was Mauss und Durkheim eint oder trennt, zugleich auch das Werk Durkheims mitverhandelt. Im Hintergrund steht das gerade für die französische Soziologie so zentrale Problem, auf welchem Fundament eine soziologische Theorie errichtet werden soll, wenn (Post-)Strukturalismus und individualistischer Utilitarismus nicht mehr als zufriedenstellende Ansätze gelten können beziehungsweise wenn man der sterilen Debatte zwischen diesen beiden Theorielagern entkommen will. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass Mauss gegenwärtig intensiv rezipiert wird. Nicht nur Caillé sieht in Mauss, wenn man ihn denn aus den Fesseln der strukturalistischen Deutung eines Lévi-Strauss und der strukturalistisch-utilitaristischen Deutung eines Pierre Bourdieu befreit, den Ahnherrn und Klassiker einer symboltheoretisch informierten, gleichwohl nicht-strukturalistischen Soziologie, einer Soziologie, die man als nicht-normativistisch und anti-utilitaristisch bezeichnen könnte und die eine Nähe zu interaktionistischen Gedanken aufweist.
Inhalt
Inhalt Vorbemerkung Alain Caillés Anthropologie der Gabe - Eine Herausforderung für die Sozialtheorie? Frank Adloff und Christian Papilloud I. Marcel Mauss, der berühmte Unbekannte II. Grundzüge eines Paradigmas der Gabe III. Gegenstimmen und eine erste Vertiefung IV. Das Konzept der bedingten Unbedingtheit V. Opfer, Gabe und Utilitarismus VI. Gabe und Symbolismus VII. Ein Abend in der "Ambrosia" - Zur strukturalen Analyse der Gabe VIII. Zu einigen Einwänden Nachwort zur deutschen Ausgabe Literatur Drucknachweise
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